Thomas Wagner 2000

aus dem Katalog „100 Meisterwerke“
>>> Berliner Museenprojekt

Überarbeitete Gegenwart: Dreierlei zu den Arbeiten von Florian Merkel

Erstens: Hose und Pullover in ein Vermeersches Gelb getaucht und umgeben von einer türkisfarbenen Aura, so stellt Florian Merkel seine „Venus nach Botticelli“ auf den Berliner Asphalt. Vor der Göttin der Liebe, deren Kult schon Caesar und Augustus politisch zu nutzen wußten, salutieren von Ferne die Baukräne rund um das Brandenburger Tor. Eine „Salomé nach Strozzi“ posiert im altrosa Gewand vor dem fahlem preussischen Himmel, den die Betonskelette des Potsdamer Platzes wie ein technisches Rückgrat stützen. Doch anders als auf dem Gemälde des Genueser Meisters blickt diese Salomé nicht auf das abgeschlagene und nun offen daliegende Haupt Johannes des Täufers. In der Hand hält sie ein harmlos scheinendes Bündel, einen verhüllten, mehr angedeuteten als blutig vorgeführten Kopf. Der Schrecken, von dem Florian Merkels Arbeiten zum „Berliner Museenprojekt“ künden, ist kein Schrecken der Seele und auch kein Schrecken aus Deutschland. Die Szenen und Motive, die er zitiert, sind zu Initialzündungen eines theatralischen Geschehens vor Kulissen der Gegenwart geworden. Noch immer produzieren die Mythengeneratoren der Antike ihre Geschichten; auf der Bühne der inszenierten Fotografie aber sind die weltbewegenden Gefühle zu befremdlichen Posen geschrumpft. Nicht minder ironisch wird die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts dargestellt. Informell strukturieren bedeutet nichts anderes, als mit weit ausholender, optimistischer Geste fünf Nägel einschlagen; und Lucio Fontanas revolutionäres Durchstoßen der Leinwandfläche erscheint vor dem Hintergrund des Märkischen Viertels wie eine Demonstration aus dem Repertoire modernistischer Propagandaveranstaltungen. So wird die Westkunst der kalten Nachkriegsjahre zum Schein mittels eines fotografischen Realismus nachgestellt, als entspreche sie dem FDJ-Appell an die Jugend: „Bau auf, bau auf“.


Schnittmuster, 1999

Zweitens: Aus dem vermeintlich so offensichtlichen Realismus der Fotografie ist bei Florian Merkel eine Veranstaltung unruhiger Selbstbetrachtung geworden, die kein alltägliches und kein fernes mythisches Geschehen aufzuklären sucht. Vernehmbar werden statt dessen Qualität und Intensität zeitgenössischer Projektionen, hybride Weltbilder, zusammengerührt aus Ingredienzen mythischer, kunsthistorischer, politisch-ideologischer und propagandistischer Herkunft. Was als Kraft in die Gegenwart hinein wirkt, erfaßt und verrenkt Körper wie Geist, verwickelt sie in ein öffentliches Schauspiel. Ironie und Didaktik sind die bevorzugten Darstellungsmittel dieser fotografischen Bühnenkunst, die stets das Verschneiden einer alltäglichen Situation mit ihrer theatralischen Übertreibung erprobt. Erst solch absurde Zuspitzung vermag unsere collagierten Selbst- und Geschichtsbilder kenntlich zu machen und unsere opernhaften Gefühle auszuleuchten.

Drittens: Über dem Weltbezug der Fotografie herrscht das Regime der Farben. Sie bestimmen die Ordnung des Bildes. Mittels einer Kolorierung von Hand entstehen malerische und affektiv besetzte Zonen. Farbe ist nie allein Lokalfarbe, sondern erzeugt eine alternative Bedeutung. Der Geist der Farbe ruft eine Ordnung des Gefühls zurück auf die Bühne. Je nach Intensität und Kombination der Farbtöne nähern sich die dargestellten Szenen dem Plakativen, dem Propagandistischen, dem Melodramatischen oder Tragischen. Doch je lauter man die Schreie und Parolen zu vernehmen glaubt, desto hohler und unglaubwürdiger klingen sie in den Ohren. Die malerische Rhetorik der Affekte, so Merkels Diagnose, erweist sich nicht mehr als synchronisierbar mit den Motiven und Themen, die auf der Oberfläche des fotografischen Bildes erscheinen. Die Einheit des Bildes, des fotografischen wie des malerischen, ist zerbrochen; Malerei und Fotografie haben historisch die Plätze getauscht. Fortan dominieren hybride Bildformen. Das einst so wirkungsmächtige mythische oder politische Geschehen ist geschrumpft zum fotografischen Kulissenspiel, die Malerei reduziert zum affektiven Farbtheater. So zitiert Florian Merkel allerlei Klischees aus verschiedenen Systemen und Zeiten, um die Malerei motivisch als ein Medium vorzuführen, das die immergleichen historischen Vorlagen reproduziert, dieselbe Folie wieder und wieder abzieht und deshalb im Kern immer schon fotografisch war. Parodiert wird dabei sowohl das latent Fotografische, das der Malerei von jeher innewohnte, aber erst mit der Erfindung der Fotografie manifest geworden ist, als auch der Umstand, daß sich die Fotografie als Teil der Kunst in ein mediales Zwitterwesen aus Dokument und Erzählung verwandelt hat, das von der Hand des Künstlers geschminkt werden will.

Thomas Wagner, 2000
für den Katalog „100 Meiserwerke“