Christoph Kivelitz 2007

Eröffnungsrede Galerie Robert Drees Hannover

Florian Merkel – Goldmund
Dr. Christoph Kivelitz

Die Arbeit von Florian Merkel hat – die pralle Sinnesfülle seiner Bildobjekte und Wandgemälde soll uns da nicht irreführen – recht viel mit Kommunikation, mit den Funktionsweisen und Verständigungsmöglichkeiten mit und durch Sprache zu tun. Die Titel sind ganz wesentlicher Teil des künstlerischen Werks, wenn auch die bildliche Umsetzung und deren jeweilige Benennung kaum vollständig ineinander aufgehen. So ist die Auseinandersetzung mit dem Schaffen von Florian Merkel bestimmt durch die spürbare Spannung zwischen der begrifflichen und der visuellen Ebene.

Daher möchte ich eingangs versuchen, den für diese Ausstellung gewählten Titel zu reflektieren. „Goldmund“ verweist auf eine Erzählung von Hermann Hesse aus dem Jahr 1930, „Narziß und Goldmund“, die Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei gegensätzlichen Charakteren, die sich auf ganz unterschiedliche Weise der Suche nach Vollkommenheit verschrieben haben. Während Narziß sich in mönchischer Askese der Idee des vollendeten Lebens in Gott angenähert hat, such Goldmund die Erfüllung in der Kunst als Wanderer, freier Künstler und zügelloser Bohémien. Freiheitsliebend und unbezähmbar steht er für den inneren Drang des Künstlers, sich immer neuen Erfahrungen und Visionen auszusetzen. Zwei gegensätzliche Haltungen sind hier untrennbar miteinander verbunden: Narziß, Denker und Asket, verkörpert Logos und Spiritualiät; sein Freund Goldmund steht für Lustprinzip und weltliche Gebundenheit. Florian Merkel rückt über den Titel das körperhaft Sinnliche, die vitale Lebenskraft des Letzteren in den Vordergrund. Hierfür sprechen die prallen Figuren in grellbunten Farben, die seinen Bilderkosmos durchwandern. In ihrer üppigen Leiblichkeit und durch ausladende Bewegungen sprengen sie die Bildgrenzen auf, um vehement in den Betrachterraum vorzustoßen. Durch Blicke und Gesten fordern sie uns dazu auf, uns in die teilweise dramatisch zugespitzten Situationen einzubringen, selbst bewusst eine Haltung zu bestimmen. Vielleicht drängt er uns damit selbst in die Situation, die Rolle des im Titel ausgeblendeten Narziß einzunehmen? Ist es unser Part, die in den Bildobjekten und Wandgemälden vorgeführten Szenarien kritisch zu hinterfragen, Logos und Eros in irgendeiner Weise zusammen und die vermeintlichen Gegensätze einer möglichen Versöhnung zuzuführen? Dies ist jedenfalls zu überprüfen, vielleicht ein möglicher Ansatz, die hier gezeigten Modellsituationen von Florian Merkel weiter auszudeuten.

Hierzu möchte ich zunächst die Arbeitsweise von Florian Merkel in einigen Worten nachzeichnen. Seine Arbeiten gehen zunächst aus von fotografischen Modellstudien, die zur weiteren Bearbeitung digitalisiert werden. Dabei bevorzugt er Posen, die aufgrund der angespannten, oftmals gar angestrengt erscheinenden Haltungen fast akrobatisch anmuten können, die in jedem Fall aber auf den jeweiligen Höhepunkt einer Handlung ausgerichtet sind. Die Fotografie wird in eine lineare, in ihrer Klarheit klassizistisch anmutende Zeichnung transformiert und flächenhaft koloriert, der Ästhetik eines Comics oder Trickfilms vergleichbar. Gleichzeitig werden die Figuren aus jedem räumlichen Kontext freigestellt und in einen allein durch Farbstrukturen bewegten Raum versetzt. Diese Vereinzelung der Gestalten ist Voraussetzung für deren neuerliche Zusammenführung zu Gruppen und szenischen Zusammenhängen. In extrem verdichteten Konstellationen zeigt Florian Merkel Männer und Frauen, die uns selbstbewusst oder schüchtern, erregt oder fast aggressiv forsch entgegentreten. Die Handlungen der miteinander kommunizierenden bzw. aufeinander reagierenden Bildprotagonisten sind zudem auf ein Gegenüber, auf einen gedachten Beobachter oder Mitakteur außerhalb des Bildes bezogen. Indem aber Kontext und Zielsetzung der Szene ausgeblendet sind, gewinnt diese eine unwirklich-surreale, geradezu absurde Qualität. In weiteren Arbeitsschritten werden einzelne Figuren oder Gruppen aus dem Bildgefüge herausgelöst. Als Acrylglasfiguren werden sie vor der Wand angebracht, um in einer Schwebesituation zwischen Objekt und Bild eine neue, wiederum körperhaft-gegenständliche Präsenz zu behaupten.

Sowohl in den Bildkompositionen als auch in den Acrylglasfiguren und Wandgemälden konzentriert sich das Beziehungsgeflecht innerhalb einer Figurenkonstellation in körpersprachlichen Posen. Die Montage mit dem Titel „Wache schieben“ zeigt so etwa zwei Gestalten, deren vordere uns frontal zugewandt ist. In einer Vorwärtsbewegung in Richtung auf den Betrachterraum winkelt die vordere, männliche Gestalt beide Arme gleichzeitig horizontal ab, um ein nicht weiter spezifiziertes Wand- oder Flächensegment beiseite zu schieben bzw. dieses zu sich zu ziehen und damit den Bildraum zu verstellen. Die im Hintergrund agierende Gestalt, die im übrigen durchaus auch weiblich sein kann, hat in gegenläufiger Ausrichtung eine Hand drohend zur Faust geballt. Das rechte Bein ist wie zu einem bevorstehenden Tritt erhoben. Die beiden auf engem Raum zusammengebrachten Menschen vermitteln den Eindruck, sie seien angesichts einer unbestimmten Gefahr genötigt, sich abzuschirmen und zu verteidigen. Die beiden Akteure grenzen sich ab, um hierüber auch einen Gegensatz von Bild- und Betrachterrealität zu behaupten. Der Blick des Protagonisten in der vorderen Bildebene versteht sich nicht als kommunikatives Angebot, dient vielmehr der Unterstreichung einer nicht zu überschreitenden Begrenzungslinie. Von den kraftvollen Gesten und dem entschiedenen Blick geht gleichzeitig aber auch eine Faszinationskraft aus, die uns sogartig in das Bild hineinzieht und in das wie in einem Ausdruckstanz vorgeführte Szenarium einbindet. Die ganz alltägliche Aufgabenstellung des „Wacheschiebens“ wird so in eine psychologisch beschreib- und ausdeutbare Modellsituation überführt, die sich sowohl auf ein Persönlichkeitsmerkmal als auch auf ein sozialspezifisches Verhaltensmuster zurück beziehen lässt.

Immer geht es in den Arbeiten von Florian Merkel um das Themenfeld Mensch und Gesellschaft, um menschliche Ausdrucksformen, das Mit- und Gegeneinander von Menschen in verschiedenen Alltagszusammenhängen. Dabei werden Spannungen, Rangordnungen und Konflikte, individuelle Empfindungen von Glück und Traurigkeit, Mut und Angst in körpersprachliche Attitüden übersetzt. Spielerische Situationen können eine fast bedrohliche Qualität gewinnen. Florian Merkel verwandelt den Ausstellungsraum in ein Versuchslabor für kommunikative Strategien, in denen soziale Realitäten und psychologische Erfahrungen wie in einem Bühnenstück szenisch zur Aufführung kommen. So sind die Titel seiner weiteren hier ausgestellten Arbeiten „Standpauke“, „Aufschwung“, „Kooperation“ oder „Morgenluft“. Unbekleidete und bekleidete Figuren werden jeweils in unterschiedlichen Größenrelationen zusammen gebracht, um damit in der Enge des Raumes verschiedene Realitäts- und Bewusstseinsebenen gegeneinander zu stellen.


Anstoß/Überschlag, 2007

In einem erstmalig für diese Ausstellung durchgeführten Experiment verbindet Florian Merkel eine Wandzeichnung mit einer zweiteiligen Acrylglasfigur. Letztere zeigt in einer eigentlich lapidar erscheinenden Szene eine entspannt auf dem Bauch liegende junge Frau. Eine zweite, auf diese zugehende Frau nimmt über eine behutsame Zehenberührung Kontakt auf, worauf erstere sich zurückwendet und dem Blick entgegnet. Der „Anstoß“ – so der Titel des Werkes – setzt eine überschaubare Handlungssequenz in Gang und befördert eine kommunikative Situation. Die über die Wandzeichnung in die Szene eingebrachte, ebenfalls weibliche Gestalt ist in raumsprengender Dimension offenbar einer anderen Wirklichkeitssphäre zuzuordnen. Während das Verhalten der beiden Vordergrundakteure zurückgenommen, die Kontaktaufnahme eher schüchtern ist, ist diese übergroße Gestalt in einer Purzelbaumbewegung unkonventionell und ungehemmt dargestellt. Das dem Betrachter entgegengeworfene Lachen steht für einen Augenblick der Freude und des Übermuts. Hier lässt sich möglicherweise eine Kausalbeziehung von Vorder- und Hintergrundebene konstruieren. So handelt es sich vielleicht um eine Kennenlernszene, die bei beiden Frauen ein positives, ausgelassenes Gefühl aufkommen lässt; evtl. geht es aber auch um die Konfrontation zweier unterschiedlicher Charaktere – passiver und aktiver Natur -, die sich gerade in ihrer Gegensätzlichkeit in besonderer Weise anzuspornen vermögen. Der Titel „Anstoß“ erlaubt sicherlich beide Lesarten.

Die hier schräg gegenüber ausgestellte Bildkomposition „Morgenluft“ lässt sich vergleichbar auf ein positives Lebensgefühl beziehen. In tänzerischen, sich zum Betrachterraum hin öffnenden Bewegungen ist eine energetisch aufgeladene Aufbruchsstimmung zum Ausdruck gebracht. Die das Bildformat dominierende weibliche Aktfigur ist im Moment des Erwachens gezeigt. Die Spiegelung ihrer selbst vergegenwärtigt den Übergang von Traum- und Wachbewusstsein, während die kleinen Figuren in gestaffelter Vorwärtsbewegung das allmähliche Hereintreten von der vita activa in die vita contemplativa szenisch nachvollziehbar werden lassen.

Auf eine soziale Realität – möglicherweise aus dem Arbeitsleben – verweist hingegen die Bildkomposition mit dem Titel „Standpauke“, hier im Übergangsraum zum Büro gezeigt. Der Begriff der „Standpauke“ steht für ein klar gesetztes Hierarchieverhältnis zwischen Untergegebenem und Vorgesetztem, so wie es sich in der Situation des Zurecht-Gewiesen-Werdens aufgrund eines vermeintlichen Fehlverhaltens dramatisch zuspitzen kann. Indem Florian Merkel drei Frauenfiguren in einen klaustrophobisch beengten Aktionsraum einbindet, lässt er dies als bedrängende Angstvision spürbar werden. Die einzige bekleidete, zwar barfuß gezeigte, doch offenbar dem Büroalltag entnommene junge Frau wird von zwei Seiten körperlich von Aktfiguren bedrängt, so dass sie ausweichend in unbequemer Haltung den Kopf zur Seite neigt. Die verbale Attacke wird in eine körperhaft empfundene Zwangslage übersetzt. Die deutlich angespannten Körperhaltungen vermitteln der Szene gleichzeitig aber auch den Charakter eines theatralisch überhöhten Spiels, das jederzeit unterbrochen und in anderen Modellsituationen fortgesetzt werden kann.


Ausstellung Goldmund, 2007

Das als bedrängend empfundene Bild löst sich auf, um dann wiederum in veränderten Figurenkonstellationen in den Darstellungen des „Aufschwungs“ und der „Kooperation“ positive Empfindungen aufkommen zu lassen. Den Gedanken der „Kooperation“ visualisieren etwa zwei eng umschlungene Figuren, die wie in einem gemeinsamen Traum verfangen Raum und Zeit durchfliegen. In ihnen verkörpert sich ein unumstößliches Vertrauensverhältnis, wobei eine der Gestalten, mit geöffneten Augen und einigen Sorgenfalten auf der Stirn, die Verantwortung zu tragen scheint, die andere hingegen mit geschlossenen Augen wie im Schlaf gedankenlos dahingleitet. Indem sie die andere Gestalt mit beiden Armen umschlingt, gibt sie ihr jedoch gerade in diesem passiven Hingegebensein Halt, Sicherheit und Stärke. Die hockende männliche Aktfigur visualisiert ein Gegenbild. Wie in den Bildraum eingepfercht, vermittelt sie ein Gefühl der Bedrängnis und Ausweglosigkeit, so wie es aus einer Situation des Überfordert- und Alleingestelltseins resultieren kann. Der sich abplackende „Bücherträger“ mag in vergleichbarer Weise eine solche Sisyphos-Erfahrung in sich verkörpern. Der „Aufschwung“ stellt sich demgegenüber dar als gemeinschaftlich unternommene gymnastische Übung, in der jeder alleinverantwortlich seinen Part übernimmt, um gleichzeitig die Kollegen zu stützen und so einen Beitrag zu einer pyramidal gestaffelten Aufwärtsbewegung zu leisten. Der in Farbzonen geometrisch strukturierte Hintergrund verknüpft die spielerische Figurenakrobatik mit einer Aufbaumetaphorik, so wie sie durch den sowjetischen Konstruktivismus oder die niederländische de-Stij-Bewegung als revolutionäres Neuerertum formuliert worden ist.

Florian Merkel übernimmt folglich in gewisser Weise den Part eines Regisseurs, der seine Modelle bestimmte Haltungen einnehmen und Rollenmuster besetzen lässt, um diese als Versatzstücke in verschiedene soziale Kontexte zu montieren. Wie in einem Musterbuch, in fast didaktischer Geradlinigkeit, stellt er Problemsituationen zusammen, die sich uns körpersprachlich, über Farbsymbolik und teilweise auch in einem Verfahren, das der mittelalterlichen Bedeutungsperspektive nahe steht, erschließen. „Goldmund“ – um den Titel der Ausstellung wieder aufzunehmen – ist so sicherlich auch als Identifikationsfigur von Florian Merkel zu verstehen. In ihm findet er ein Alter Ego, das sich gesellschaftlichen Zwängen und Erwartungshaltungen entzieht und für sich immer neue Experimentier- und Gestaltungsfelder in Anspruch nimmt. Doch implizit verweist er damit auch auf den komplementären Part dieses Sinnesmenschen, auf „Narziß“, den Geistesmenschen, der ja nicht nur die Erzählung Hermann Hesses evoziert, sondern in einem weitergehenden Rückblick die griechische Mythologie ins Spiel bringt. Diese Bezugnahme liegt nahe, da Florian Merkel ja auch in der Ausführung seiner Bilder den Stil der griechischen Vasenmalerei zitiert und damit ein entsprechendes kulturhistorisches Fenster eröffnet. Der Sage nach wies der vielfach umworbene schöne Jüngling auch die Liebe der Nymphe Echo zurück. Dafür wurde er von Nemesis, nach anderen Quellen durch Aphrodite, dergestalt bestraft, dass er in unstillbare Liebe zu seinem eigenen im Wasser widergespiegelten Abbild verfiel. Eines Tages setzte er sich an den See, um sich seines Spiegelbildes zu erfreuen, woraufhin durch göttliche Fügung ein Blatt ins Wasser fiel und so durch die erzeugten Wellen sein Spiegelbild trübte. Schockiert von der Täuschung, er sei hässlich, starb er, um sich in einer Metamorphose in eine Narzisse zu verwandeln. Damit steht die Figur des Narziß für einen Transformationsprozess, für die Umformung des Leiblichen in ein ideelles Prinzip.

Dieser Wandel ist auf anderer Ebene letztlich auch Gegenstand der Bildkompositionen von Florian Merkel. Ein abstrakter Begriff wird in ein Körpergefüge und eine sich darin ausdrückende soziale Gemengelage übersetzt. Die ästhetische Schönlinigkeit kollidiert dabei mit Posen und Gesten, die nicht unbedingt eine ästhetische Empfindung befördern, in denen sich vielmehr auch Spannungen, Konflikte und Notlagen artikulieren. Wie „Narziß“ und „Goldmund“ als Figurenpaar sich wechselseitig ergänzen, so sind offenbar auch das Ästhetische und die ganz alltäglichen Probleme zwar gegensätzlich, doch unlösbar ineinander verkettet und auseinander ableitbar. Diese Übergangsphänomene und Variationen zwischen positiv und negativ, schön und hässlich, banal und erhaben werden zum eigentlichen Gegenstand der Kompositionen von Florian Merkel. Hiervon ausgehend definiert er ein Spannungsfeld, so wie es sich in unterschiedlichen Lebenssphären artikuliert und ständig neue Disharmonien produziert. Diese Missverhältnisse reflektiert Florian Merkel als Kommunikationsprozess, der sowohl sinnlich-körperhaft als auch begrifflich-logisch in seinen Bildentwürfen zur Darstellung kommt. Den ihnen gemäßen Ort finden die Bildentwürfe von Florian Merkel so in hohem Maße in Räumen, in denen Menschen zusammen kommen, miteinander kommunizieren und interagieren. Ihre eigentliche Bestimmung finden sie erst in der gesellschaftlichen Wirklichkeit unserer Gegenwart.