aus dem Katalog „100 Meisterwerke“ 2000
>>> Berliner Museenprojekt
Einladung zu einer anderen Raeumlichkeit
Manchmal, wenn ich einen auslaendischen Kuenstler in Japan vorzustellen habe, empfinde ich aehnliche Schwierigkeiten, wie bei der Uebersetzung eines fremdsprachigen Textes. Ein englisches Wortspiel laesst sich z.B. nicht so einfach ins Japanische uebertragen. Ein Wort, das unterschiedliche Konnotationen in sich birgt, macht bei der Uebersetzung oft erst dann Sinn, wenn es von eingehenden Erklaerungen begleitet wird. Man muss dann aber den Verlust der unmittelbaren Wirkungskraft des Wortes in Kauf nehmen. Sowohl Sprache als auch Kunst wurzeln fest in der Kultur eines Landes und werden von vielschichtigen Bedeutungsschleiern umhuellt.
Ebenso naehren sich die Werke Florian Merkels von zahlreichen „regional“ verwurzelten Vorstellungen, die sich nur schwer uebertragen lassen. Oft verwendet er klassische Motive aus der griechischen Mythologie, christlichen Anekdoten, Episoden aus der deutschen Geschichte oder Figuren in barock-dramatischer Gestik. Auf diese Weise wickelt sich beispielsweise ein klassisches Drama vor der Kulisse Berlins im Bauboom ab. Der Aha-Effekt europaeischer Betrachter, um so mehr noch bei Berlinern, beim Anblick seiner Werke ist naturgegeben viel direkter als bei uns Japanern.
Salome, 1998
Was Merkel darstellt, ist jedoch keine einfache Parodie. Er distanziert sich deutlich von der snobistischen Freude der Intellektuellen, das Versteckte Stueck fuer Stueck zu entdecken. Vor seinen Werken empfindet man zunaechst physische und psychische Verwirrung, verursacht durch ihre trick-reiche Atmosphaere. In vielen seinen Werken, die durch Ueberarbeitung von Photos entstanden sind, herrscht, anderes als bei reiner Phantasieprodukten, einerseits der Eindruck von Wirklichkeitsgetreue; die hochdramatisierte Gestik der dargestellten Figuren – sie erinnern an die uebertriebenen Haltungen eines Kabuki-Schauspielers – in unnatuerlich heller Farbgebung vermittelt andererseits den Werken eine eigenartig „skeptische“ und unbehagliche Stimmung. Irgend etwas stimmt nicht. Dieses Gefuehl der Entfremdung zieht den Betrachter unerwartet tief in das Geheimnis der Werke hinein. Auf diese Weise etabliert Merkel seine eigene unrealistische Raeumlichkeit.
Dass nicht alles, sondern „etwas“ nicht stimmt, irritiert die Menschen. Merkel, der von diesem Trick weiss, kombiniert gewoehnliche Werkzeuge, Motive oder Figuren in einer Gebaerde, die jeder irgendwann irgendwo gesehen haben muss und in Erinnerung hat, miteinander. Sowohl die Lob verdienenden Meisterwerke der Kunst als auch Puppen aus der Rumpelkiste werden auf der gleichen Ebene eingesetzt, wodurch eine Verschiebung ihrer Bedeutung stattfindet. Aehnlich wie die Massenprodukte der Pop-Art sind klassische Motive, die wiederholt zitiert und ausgeschoepft werden, hervorragende Werkstoffe, um eine kitschige Atmosphaere zu erzeugen. Man kann darin eine leichte Ironie gegenueber der Kunstgeschichte oder sogar einen skeptischen Blick auf die sog. „wahren“ Kunstwerke vermuten: Was ist wertvoll? Was ist kitsch? Was gehoert zur Tradition? Was ist neu? Wo ist die „Wahrheit“?
Florian Merkel, der in der ehmaligen DDR geboren wurde und dort aufgewachsen ist, zog nach der Wiedervereinigung Deutschlands nach Berlin, in jene Stadt, die sich seitdem Tag fuer Tag drastisch veraendert. Seine Erlebnisse im Wandel der sozialen Strukturen und der Lebensumgebung haben auf seine Schoepfungen bestimmt nicht geringen Einfluss ausgeuebt. Politische Gesellschaftskritik scheint jedoch nicht die Motivation seiner kuenstlerischen Taetigkeiten zu sein. Merkels Werke lassen sich nicht in einer einzigen, vorgefertigten Bedeutung zusammenfassen; sie laden den Betrachter vielmehr zur freien Assoziation, zu unterschiedlichen Interpretationen ein und lassen die Haltung des Kuenstlers erahnen, der selbst Abstand haelt.
Unterwegs, 1988
Es gibt eine Serie von schwarzweissen Landschaftsaufnahmen, die Merkel noch in der DDR-Zeit gemacht hat. Sie entfalten eine so altmodische, nostalgische Stimmung, dass man kaum glauben mag, dass sie erst in den 80er Jahren aufgenommen wurden. Brachliegende Flaechen, Gueterzuege, die auf der Grenzlinie zwischen Himmel und Erde fahren, Plattenbauten, einfache Leute, die am Strassenrand stehen. Nirgendwo sind besonders reizvolle Photomotive zu finden. Mal ragen Spiegel oder Stossstange eines Autos ins Bild, mal sind die Photos verschwommen, deuten so an, durch das Autofenster aufgenommen worden zu sein. In ihnen zeigt sich der Blick eines Reisenden, der sich quasi schwebend mitten durch die Landschaft wie Gesellschaft von einem Ort zum anderen bewegt und die Szenen aus dem Fenster so wahrnimmt, wie sie einfach sind. Diese weder aggressive noch sentimentale Haltung des Kuenstlers verleiht den Photos einen besonderen Reiz.
Dieser stille Blick Merkels als Photograph spiegelt sich auch in seinen handkolorierten Werken. Nirgendwo sind billige Vorspiegelungen falschen Glanzes zu finden. Es ist uebrigens eine interessante Tatsache, dass der Bedeutungsreichtum der Merkel’schen Ausdruckstechniken seinen Ausgangspunkt in ausgesprochen pragmatischen Anlaessen hatte. So entstanden z.B. seine Technik der Photokolorierung auf der Basis frueher Erlebnisse, als er in der ehmaligen DDR, wo die Farbphotographie kaum verbreitet war, fuer Freunde und Bekannte als Geburtstagsgechenke schwarzweisse Photos kolorierte. Es wird gesagt, dass er selbst in seinen Bildern so oft vorkommt, weil dies so viel schneller ist, als jemand anderern entsprechend anzuweisen. Seine dergestalte Grosszuegigkeit und Entschlossenheit unterscheiden sich deutlich von der Haltung der Kuenstler der Conceptual-Art.
Florian Merkel stuetzt sich nicht auf Konzepte oder Wissen: er verfolgt auf puristische Weise nur die Gestalt, nach der er sucht, und dort zeigt sich die originelle Ausdruckskraft seiner Kunst. Diese Kraft emanzipiert seine Werke. Sie, fuer die es keine „richtigen Antworten“ gibt, oeffnen sich dem Betrachter gegenueber weit und lassen ihm freien Zugang zu individuellen Deutungen. Die Werke Florian Merkels werden nun zum ersten Mal hier in Japan vorgestellt – weit weg von Europa. Dabei koennen wir darauf hoffen, dass zu den bisherige Interpretationen, die auf dem gemeinsamen zeitgenoessischen Erkentnisstand basieren, neue Deutungen und Bedeutungen aus der Sichtweise einer anderen kulturellen Tradition hinzugefuegt werden. Welche neue „andere Raeumlichkeit“ sich aus seinen Werken entfalten wird – hier in Japan vor dem Hintergrund einer anderen „Regionalitaet“ – lassen wir uns ueberraschen!
Natsumi Araki
Curator, Mitaka City Arts Center
Übersetzt von Akiko Izumi