Zur Ausstellung: Florian Merkel „Superpositions“, Atelier. Galerie für Fotografie Hannover
Florian Merkel gehört zu der Generation von Künstlern, die sich in den verschiedenen Medien gleichermaßen selbstverständlich bewegen. Er wurde Anfang der 1980er Jahre an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig zum Fotografen ausgebildet. Die Fotografie bestimmt sein Werk, doch fotografiert er nicht nur. Er malt auch Ölbilder, tritt häufig als Musiker in Erscheinung und ist in vielerlei Hinsicht auch als Performer zu bezeichnen, denn er agiert oft selbst als Modell vor der Kamera. (Auch in den hier ausgestellten Bildern ist er zu identifizieren). Als Zeichner ist er insofern anzusehen, da er bei vielen seiner bisherigen Werke, vor allem bei den großen raumbezogenen Wandarbeiten wie „Macht und Schönheit“ im Haus der Kunst in München oder „Soziale Anmut“ in der Kuppel des Württembergischen Kunstvereins Stuttgart, Fotografien quasi in Zeichnung überführt hat. Mit Hilfe von Computerprogrammen konturierte er nachträglich die in den verschiedensten Posen abgelichteten Figuren, so dass diese – trotz zeitgenössischer Kleidung und Frisur – in nahezu klassizistischer Manier daherkommen und an Umrisszeichnungen wie die des britischen Bildhauers John Flaxman erinnern (dessen Homer-Illustrationen aus dem späten 18.Jahrhundert viele Schulbücher zieren).
Merkels immer äußerst präsent wirkende Figuren-Kompositionen zeichnen sich insbesondere durch die Spannung zwischen alltäglichen, vertrauten Körperhaltungen und über Jahrhunderte in der Kunst tradierte, bis in die Gegenwart wirkende sogenannte „Pathosformeln“ aus. Diesen Begriff prägte der Kulturhistoriker Aby Warburg für die Darstellung formelhafter Gestik und Mimik des Gefühlsausdrucks, denen er eine universale Gültigkeit unterstellte. – Das Interesse an der vielschichtigen Ausdruckskraft von Körpersprache und Haltungen, individuell oder in Gruppenkonstellationen, durchzieht Merkels Werk wie ein roter Faden. Seine Arbeiten bringen ins Bewusstsein, dass unsere Körper und unsere Bewegungen einerseits durch die Allgegenwart von Bildern historisch und gesellschaftlich geprägt sind und andererseits immer wieder neu, individueller Ausdrucksträger von Befindlichkeiten werden können.
Die Ausstellung zeigt unter dem Titel „Superpositions“ („Überlagerungen“) Arbeiten aus zwei verschiedenen Werkgruppen, die in den letzten 3 Jahren entstanden sind, und in denen sich das Fotografische vor allem mit malerischen Impulsen verbindet. Bei den sechs hinter Acrylglas montierten, digitalen Colorprints (80 x 100 cm) steht das Thema der Figur wiederum im Mittelpunkt. Diese Bilder sind keine theatralischen Inszenierungen, sie besitzen auch nichts vordergründig Groteskes oder Absurdes wie es in früheren Werken manches Mal der Fall war. Sie wirken intimer, rücken die Figuren Ausschnitthaft nahe an uns heran und sind so stark verfremdet, dass die Szenen zum Teil nicht mehr auf Anhieb zu erfassen sind. Das Montage-Verfahren erzeugt krasse Proportions- und Perspektive-Wechsel. Ein konkretes Umfeld, in dem die Leiber agieren, ist nicht erkennbar; sie befinden sich vor einer neutralen schwarzen Fläche. Die aufgenommenen Personen werden in farbige Körpersilhouetten, in nahezu abstrakte Kompositionen überführt. Bildnerische Kriterien wie Rhythmus (auch innerhalb der Anordnung der Serie nicht unwichtig), Ausgewogenheit bzw. Kontrastreichtum und Spannung der Formen und Farbflächen treten in den Vordergrund. Entscheidend zur Gesamtwirkung trägt die Stimmigkeit der Farben bei. Es dominieren neben dem Schwarz gebrochene, eher dunkle Töne und Mischfarben wie Violett, Grün und Braun.
GIMM 5, 2010
In der Flächigkeit und wegen der stellenweisen „Auflösung“ in digitale Pixel erinnern die Bilder an Werke der amerikanischen Pop-Art, vor allem an die bekannten Porträts von Andy Warhol. Was dieser durch eine Übermalung der gerasterten Siebdrucke an den sich auflösenden Rändern erreichte, wird hier durch die starken Vergrößerungen und Überlagerungen bewirkt, nämlich eine Unschärfe, die Bewegung im Stillstand zeigt. Diese leichte Verschiebung hält unseren Blick fest.
Die Bilder sind Stills eines gemeinsam mit Jasmin Schwarz produzierten Videos, welches unter dem (Videoart-)Namen „BEEP OFF“ im Netz zu finden und anzuschauen ist. Es zeigt die agierenden „Avatare“ (künstliche Personen oder grafische Stellvertreter der echten Personen) in ständiger Bewegung: Sie schlagen Purzelbäume, wälzen sich übereinander, gehen in die Hocke, kauern zusammengesunken oder sind zum Absprung bereit. Sie kreisen scheinbar um sich selbst.
Das Video gehört zu einer pseudowissenschaftlichen, modellhaften Versuchsanordnung, genannt GIMM. Dies ein interaktives Experiment, das Merkel und Schwarz 2010 in den Uferhallen in Berlin realisiert haben. GIMM ist die Kurzform für „Gerät zur Erforschung von Interaktions- und Kommunikationsstrukturen zwischen Mensch und Maschine“. Es soll „den Probanden in die Lage versetzen, seine individuelle Inanspruchnahme von Aktivität und Passivität zu erkennen, zu beeinflussen und sich dementsprechend in gesellschaftlichen Bezügen zu positionieren.“ (vgl. http://beepoff.de) In dem Testmodul spielen Faktoren wie Reaktionszeit, Gewicht, Körpertemperatur und gar „der Schwefelgehalt der Atemluft“ eine Rolle, daneben die Telefonvorwahl, das Monatseinkommen und die Persönlichkeit der teilnehmenden Besucher. Aus diesen Daten wird auf wunderbare Weise eine vermeintlich benutzerspezifische Videoprojektion errechnet, die Avatare mit bestimmten Verhaltensmustern und in charakterisierender Färbung, Reihenfolge und Kadrierung zeigt. Der Farbton soll aus der Summe der angegebenen Daten resultieren und nicht weniger leisten, als Auskunft über den spezifischen Persönlichkeitszustand des Besuchers zu geben! – Auf amüsant-ironische Weise werden bei BEEP OFF zugleich empirische Verfahren und Normen der Soziologie und Psychologie, Bildgebende Verfahren der Wissenschaft sowie deren Manipulierbarkeit aufs Korn genommen. Es bleiben die artifiziellen, stark stilisierten Bilder, die sich als Summe, quasi als Verdichtung vielschichtiger Faktoren menschlicher Existenz zu verstehen geben.
Die Fotografien der anderen gezeigten Werkgruppe sind fünf aktuell entstandene Prints von analogen 6 x 6-Filmen. Hier kommt das sogenannte „Sandwichverfahren“ zur Anwendung, bei dem mindestens jeweils zwei Aufnahmen übereinander belichtet werden, – das Bild entsteht also wiederum aus der Überlagerung verschiedener Motive. Der Film wird in der Kamera nach einer Belichtung einfach nicht weitergespult. Das bedeutet, dass genau bedacht und erinnert sein will, was schon zuvor abgelichtet wurde und was hinzukommen darf, um ein noch funktionierendes und spannendes Bild zu erzeugen. Insbesondere die Menge und die Verteilung des Lichtes spielen dabei naturgemäß eine wichtige Rolle. Die Kamera ins pralle Gegenlicht zu halten, birgt durchaus das Risiko eines Unkenntlichwerdens; dies auszureizen ist sicherlich eine Gratwanderung. Die Mehrfachbelichtung des Films ist das entscheidende Verfremdungsverfahren, wodurch der Fotograf eine Intensivierung wie auch eine Art Verrätselung der Wirklichkeit erreicht. Dieser Kunstgriff erweitert die Möglichkeiten der Fotografie durch Einbeziehung von mehr oder weniger gesteuertem Zufall, der zu bisher ungesehenen Kombinationen der Motive, wie Menschen, Bäume oder Straßen führt. Schönes trifft auf Hässliches, leere Räume werden gefüllt, Körper scheinen zu rotieren. Unsere Sehgewohnheiten werden durch die Überlagerung der erkennbaren Sujets immer wieder durchkreuzt. Hinzu kommen die Irritationen durch Gegenlichteffekte und Unschärfen.
Überlagerungen 2, 2012
Diese Prints wirken viel weniger artifiziell als die digital bearbeiteten Avatare. Doch auch sie verwandeln Ablichtungen der Realität in mehr oder weniger abstrakte Farbeindrücke. Hier dominieren helle, pastellfarbene Töne, eine sommerliche Atmosphäre entsteht, die an impressionistische Bilder erinnert.
Die malerische Wirkung dieser Fotografien ist frappierend. Historisch war das Verhältnis zwischen Fotografie und Malerei lange ein spannungsreiches: Um die Fotografie als vollwertiges künstlerisches Ausdrucksmittel zu etablieren, eiferten die Fotografen den Malern in vielerlei Hinsicht nach, in Zeiten der Schwarzweiß-Fotografie wurden die Prints handkoloriert, auf dem Höhepunkt des Impressionismus orientierten sich die so genannten „Piktorialisten“ am vorherrschenden Malstil und wandten häufig ähnliche Merkmale wie verringerte Konturenschärfe, fließende Übergänge, eine nebelartig zerstreute Lichtführung oder eine sorgfältige Wahl des Ausschnitts an.
Heute spielen, nachdem sich die Fotografie längst als eigenständige Kunstform emanzipiert hat, solche Rivalitäten oder Berührungsängste zwischen den Medien keine Rolle mehr. Wir haben, trotz aller Grenzüberschreitungen, erkannt, dass der Blick auf die Welt durch eine Kamera ein ganz spezifischer ist. Er stellt Momente still und öffnet ausschnitthaft ein Fenster zur Realität. Das Interesse des Fotokünstlers ist es sicherlich, immer wieder neue, andersartige Bilder der Wirklichkeit zu schaffen, die sich von der Pseudorealität unterscheidet, die die meisten der uns im Alltag umgebenden Fotografien kennzeichnet. Der russische Fotograf Boris Mikhailov spricht im Zusammenhang seiner Diaprojektion Butterbrote von Gestern (zu deren jüngster Präsentation im Sprengel Museum Hannover Florian Merkel die Musik gemacht hat) von der Hoffnung, durch seine (ebenfalls) im Sandwich-Verfahren erzeugten Bilder „hinter ein Geheimnis zu kommen, etwas zwischen den Zeilen zu entdecken, das Bestreben, das Unausgesprochene zu erkennen“. Vielleicht ist Florian Merkel ebenfalls vom Wunsch beseelt, zu „verschlüsseln“ und dann den verborgenen Sinn seiner Bilder mit Genuss zu „enträtseln“. Seine inszenierten Fotografien zeigen weniger die Macht des Wirklichen, als die Kraft des Möglichen.
Isabel Schulz