Dürer optimiert 2014-2018

Linienfindung

In meiner Kindheit las ich die klassischen Sagen von Gustav Schwab in einer Volksausgabe aus den 1920er Jahren und erfreute mich an den linearen Illustrationen von John Flaxman und Asmus Carstens, die Strenge und Heldenhaftigkeit vermittelten.
Später bekam ich einen etwas älteren Flaxmanband in die Hand, in dem dieselben Zeichnungen ungemein zart gepunktet daherkamen und die Figuren einen geradezu melancholisch-weichen Ausdruck hatten.
Als ich sehr viel später tonige Originalblätter des Meisters gesehen hatte, wurde mir klar, dass die umgezeichneten Stiche in den Büchern die Intentionen der Herausgeber erkennen ließen: dass entweder die Wehrbereitschaft oder die Schöngeistigkeit der Leserschaft beflügelt werden sollte.
Ich war einem ähnlichen Missverständnis erlegen wie Winckelmann, der dem Reiz der römischen Marmorkopien griechischer Bronzen verfallen war.
Die Künstler selbst haben die Minimalisierung ihrer Vorlagen weitestgehend vermieden und überließen diesen Schritt meist den Stechern.

Wird eine Fotografie auf das lineare Bildgerüst zurückgeführt, erinnert das Ergebnis sehr an die Stiche nach Flaxman oder Carstens.


Dr. Tulp, Vektorgrafik, 2001

Die Reduktion eines Bildes auf das lineare Schema ist relevant für den Bildgegenstand und wurde vor der Erfindung der Fotografie und gelegentlich auch heute noch als Reproduktionsverfahren gehandhabt.
Die Eliminierung der Linien eines gegenständlichen Bildes führt dagegen zu gänzlich anderen Ergebnissen, die den Ursprung nur ahnen lassen, in dieser Betrachtung aber eine untergeordnete Rolle spielen. Eine Entsprechung dazu findet sich in der Erosion offen stehender antiker Marmorskulpturen.

Kunstreproduktionen der gleichen Vorlagen, die in verschiedenen Zeiten und Zusammenhängen veröffentlicht wurden, zeigen oft Unterschiede in der Wiedergabe, die über die drucktechnischen Toleranzen hinausgehen. Mir war einmal aufgefallen, dass die von Dürer oder Holbein Porträtierten in deutschen Büchern aus den 30er Jahren eine merkwürdige Steifheit zeigen, ihre Mimik ist oft streng und belehrend, die Kleidung auffallend akkurat.
Am Reprofotografen kann es kaum liegen, denn sein Spielraum ist sehr eng. Eher hat der Retuscheur, der die Vorlagen üblicherweise manuell druckfähig gemacht hat, bewusst oder unbewusst einer Norm folgend, die Erscheinung der Bilder im Sinne einer stilistischen und ideologischen Vorgabe beeinflusst.

Um das zu testen habe ich Seiten aus einem tschechischen Dürer Bildband von 1981 reproduziert, Tonwerte und Linienführung im Hinblick auf einen vorteilhaften Eindruck digital korrigiert und die Ausdrucke mit Farbstiften, Tusche und Wasserfarbe nachbearbeitet, bis eine erkennbare Veränderung, die über die Anpassung an Tonwerterwartungen hinausgeht, eben deutlich wurde. Die Originalzeichnungen kenne ich freilich nicht, wie die meisten Zeitgenossen auch.
Das Ergebnis ist die unten angeführte Bildreihe, die mit der Ambivalenz der Reproduktion spielt und damit arbeitet, wie dem von seinem Original getrennten und als Reproduktion oder Kopie akzeptierten Kunstwerk eine bestimmte Erscheinung zugewiesen und instrumentalisiert werden kann.

„Dürer optimiert“ – links die Vorlagen, rechts Inkjetprints ca. 40x30cm, Wasserfarbe, Tusche, Farbstifte, 2014-2018


Lachende Bäuerin


Willibald Pirckheimer


Bildnis eines jungen Mädchens


Kopf eines weinenden Engelchens

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