SAMTKRAGEN 2025

Konzert und Ausstellung im „Hidden Space – die verborgene Kammer“ in Berlin, Juni 2025, kuratiert von Florian Merkel.

15 Positionen zeitgenössischer Kunst aus Berlin, Bonn, Chemnitz, Dresden, Leipzig, Luckenwalde

Die fröhlichen Kulturbonzen: Lars Lückenfüller, Sylvia Barth, Florian Merkel, Laurin Erdmann
Blick vom Eingang

Der „Hidden Space“ im Prenzlauer Berg hat eine einzigartige Atmosphäre: Während die Erscheinung des gründlich sanierten Stadtbezirkes von den inzwischen erwachsenen Kindern der Neusiedler der Zeit um 2000 bestimmt wird, tut sich in der Immanuelkirchstraße ein Zeitportal auf, in dem die Geister der 80er gleichsam im Raum schweben. Als ich das Angebot für eine Ausstellung an diesem Ort bekam, dachte ich an eine Klangperformance. Selbst seit den 80ern musikalisch aktiv, habe ich im jüngeren Chemnitzer Humus in den letzten zwei Jahren Positionen gefunden, die für mich die Brücke 40 Jahre zurück schlagen. Persönliche Erfahrungen und künstlerische Reaktionen darauf wiederholen sich in abgewandelter Weise. Es kann bei der Begegnung der Zeitebenen im besten Fall zu glücklichen Annäherungen kommen. „Die fröhlichen Kulturbonzen“, die zur Eröffnung aufspielen, sind aus dieser Quelle gespeist.
Um der Geschichte den angemessenen Rahmen zu geben, wurde eine Ausstellung zusammengestellt, die diesem Ansatz gerecht werden soll. In meiner Zeit im Kunstverein Feuerwehrhaus Kemlitz und beim Chemnitzer CHANGER, einem zusammen mit Lydia Thomas betriebenen Kunsttausch Projekt, sind mir etliche unverwechselbare Positionen begegnet, von denen einige in der Schau vertreten sind, andere kenne ich schon seit vielen Jahren. Samtkragen erscheint mir als passende Metapher für die ideelle Klammer: Edel in der Erscheinung, abgehoben von der Nivellierung des Alltags und prinzipiell erreichbar. Selbst steuere ich der Schau mehrere colorierte Fotografien aus den letzten Jahren bei.
Herzlichen Dank an die Hausgemeinschaft der Immanuelkirchstraße 21!

Blick zum Eingang
die Nischenwand
Jens Ausderwäsche Video

Jens Ausderwäsche ist als Stimme der Chemnitzer Elektro Punkband „Baumarkt“ und als Solokünstlerin bekannt. In ihrem Video „früh gesät, damit spät wähnt“ von 2024 sehen wir eine junge Frau, die sich in einem geschlossenen, nahezu leeren Raum bewegt und verbale Versatzstücke von sich gibt. Funktionslose Haushaltsgegenständen deuten sich an, Lichtquellen sind ein Fenster und ein Telefon. Die Intensität der Performance lässt vermuten, dass wir die Künstlerin selbst sehen. Die Außenwelt wird durch das Sieb eines Vorhangs wahrgenommen und deren Bewegung kurz kommentiert, was an den 39 Jahre früher entstandenen Film „Samochody, samochody!“ („Autos, Autos!“) von Józef Robakowski erinnert, in dem vorbeifahrende Autos mit diesem Ruf beschrieben werden. Die polnische Arbeit ist vielleicht in einer ähnlichen Situation entstanden, kommt aber ironisch daher. Jens Ausderwäsche macht ernst und wirft sich an die Wand, ihre verhaltene Präsenz im Gefangensein ist von existenzieller Wucht.

Frank Siewert

Frank Siewert ist auch Naturwissenschaftler und kam bei seinem Studium in den 80ern mit der sächsischen Kunstszene in Berührung. In den seitdem entstandenen Malereien und vor allem bei seinen Zeichnungen zeigt sich eine erstaunliche Konstanz und formale Einheit. Die Delikatesse, mit der Frank Siewert seine Materialien behandelt, erzeugt ein geschlossenes Gesamtbild des Werkes, wie es selten zu finden ist. In seinen Bildern tut sich eine skurrile Welt phantastischer Gestalten auf, die sich gerade aus dem Amorphen zu materialisieren scheinen und keck auf die Suche gehen, möglicherweise als Antipoden zur rationalen Physik. Frank Siewert lebt in Berlin und betreut kuratorisch den „Hidden Space“.

Osmar Osten

Der Chemnitzer Osmar Osten studierte Anfang der 80er in Dresden Malerei und gehört seitdem zu den interessantesten und wandlungsfähigen Künstlern im Chemnitzer Gefüge. Seine Bilder und Plastiken folgen einem Stil, den man kindlich naiv nennen könnte, wenn seine Stupsnasen, Nussknacker und Smiley Gesichter nicht zu sarkastische Statements zur gesellschaftlichen Realität fähig wären, die die vordergründige Erheiterung auf bittere Weise relativieren. Er steht seinen jüngeren Kolleginnen und Kollegen in der der Stadt mit wachem Interesse gegenüber und genießt deren hohes Ansehen

Sasa Krech

Sasa Krech lebt in Berlin-Friedrichshain und ist diesem Einzugsgebiet in ihrer Arbeit und auch tagespolitisch eng verbunden. Die abstrakten Pinselzeichnungen auf Papier, an denen Sasa Krech in den letzten Jahren gearbeitet hat, folgen einem intuitiven Prinzip, das über die emotionale malerische Grundsubstanz eine einteilende Strukturierung als fassbares Gerüst legt, mit einigen Ausflügen ins Gegenständliche. Die Nuancierungen ihrer Farbgebung reichen dabei von harsch expressiv bis zart flirrend. Im Ergebnis entstehen Bilder, die zu einem harmonischen Eindruck führen, aber die auslösenden Widersprüche drängend in sich tragen

Lavinia Chianello

Lavinia Chianello stammt aus Palermo und lebt nach Phasen in London, Brasilien und Argentinien derzeit in Chemnitz. Zusammen mit Tomás Creus betreibt sie seit 2004 das „Studio Elementare“ für Animationsfilme. In ihren Installation geht es um Geburt und Werden, um Rollen und Zuweisungen, um Entwicklungen in Lebensentwürfen, um Leben und Tod. Hinter einer lieblichen und gleichzeitig morbiden Oberfläche tun sich Ahnungen von gelebten Konflikten und Passionen auf. In der Ausstellung bilden Wachskugeln auf rohen Brettern einen sozialen Verbund, der von einer regelnden strukturellen Kraft überwacht wird.

Laurin Erdmann

Laurin Erdmann studiert Kunstgeschichte und hat ein paar wichtige Jahre seines Lebens in Chemnitz verbracht. Er gehört zu einer jüngeren Chemnitzer Kunstszene, in der auch Jens Ausderwäsche unterwegs ist, die parallel zu dem, was man als Mainstream bezeichnen könnte, existiert. Genregrenzen sind hier uninteressant und Film, Musik und Malerei gehen eine wilde Mischung ein. Ich finde darin Parallelen zu den Karl-Marx-Städter 80ern. Sein Malstil ist an Cartoon und Comic geschult, ohne deren bindendes Narrativ.

Jasmin Krausch Video

Jasmin Krausch hat Berlin mit seinen kulturellen Facetten aufgesogen, wobei ihre künstlerischen Perspektiven durch die großen Zeiten der Volksbühne und des Tacheles mitgeprägt wurden. Wir spielten gemeinsam in der musikalischen Perfomancegruppe „polymodular!“ und bauten als „Beep Off“ Videos und performative Installationen. Jasmin Krausch hat für den Samtkragen die 3D-Animation “Ohne Diddl” erstellt, in der sie Elemente ihrer Zeichnungen und Notizbücher auf eine neue Ebene bringt und die am besten mit ihren Worten beschrieben wird: „Im epistemischen Spannungsfeld von Sprache und Bild verortet, untersucht das Werk die produktive Interferenz dieser beiden semiotischen Systeme. Im Sinne von Derridas Différance macht es die prinzipielle Unabschließbarkeit von Bedeutung sichtbar und generiert einen hybriden Bedeutungsraum, der die ontologische Instabilität von Zeichen offenlegt.“

Hanne Kroll

Hanne Kroll ist, wie Lydia Thomas, einer Gruppe von Malerinnen verbunden, die seit dem Münchener Studium immer wieder in losem Zusammenhalt gemeinsam in Erscheinung treten. Auf ihren Ölbildern treibt meist gut gelaunt wirkendes Getier ein seltsam philosophisch abgeschlossenes Dasein. In warmen Farben gehalten, anheimelnd und gruselig zugleich, sind diese Wesen in den besten ihnen denkbaren Welten unterwegs, freuen sich ihrer Existenz und träumen von Kettenkarussellen, zu denen sie sich vermutlich nie werden aufschwingen können. Hanne Krolls Fische zerfallen in der Lichtbrechung des bewegten Wassers in künstlerischer Unschärferelation: Die eigentliche Form bleibt uns verborgen, die erkennbare Erscheinung besteht im Pulsieren um einen Mittelpunkt, während der Hund daneben nachdenklich in sich schwebt. Hanne Kroll pendelt zwischen mehreren Metropolen und ist im Moment Leipzig zuzuordnen.

Sovija

Sovija hat vor nicht langer Zeit in Bielefeld die Theatermalerei erlernt und ist danach in ihre Heimatstadt Chemnitz zurückgekehrt. Auf ihren in kontrastreicher Ornamentik aufgeteilten Bildern tauchen oft den Betrachtern zugewandte, lauernde Figuren mit uniformen Maskengesichtern auf. Letztere sollen die Entpersonalisierung der Wesen und deren Verallgemeinerbarkeit zeigen, andererseits erinnern sie an reale Sturmhaubenaktivisten und an die Außerirdischen in William Cameron Menzies‘ „Invasion vom Mars“ aus den 50ern, was im Grunde auf eine vergleichbare Interpretation hinaus läuft. Gleichwohl spielt im Entstehungsprozess die Verarbeitung langfristiger Alltagsbeobachtungen eine Rolle, was der psychologischen Momentaufnahme einer sozialen Situation die Metaebene der Zeit hinzufügt.

Michael Stelzer

Ende der 70er Jahre besuchte ich den Zeichenzirkel von Axel Wunsch, der sich als reges Sammelbecken der Karl-Marx-Städter jungen Künstlerschaft herausstellen sollte. Prägend in dem Kreis waren die drei Stelzer Geschwister Andreas, Gudrun und Michael. Michael Stelzer war etwas älter als ich, arbeitete als Tischler und hatte eine Passion für Kraftsport. Er zeichnete akribisch in langen Nächten phantastische Stadtansichten und prophetenhafte Figuren aus einer verwunschenen Welt. Er hatte 2013 eine schöne Ausstellung im Lesecafe in der Leipziger Straße in Chemnitz, dem heutigen Odradek. Zu dieser Zeit ist er verstorben.

Lars Lückenfüller

Lars Lückenfüller aka Silent Aux ist ein Musiker aus Chemnitz, der dem Genre des Pocket Punk verbunden ist und zum Umkreis des RÖ13 Labels mit Jens Ausderwäsche und seinen Musik- und Videoproduktionen gehört. Lars Lückenfüller zeichnet mit feinem Kugelschreiber komplexe Strukturen auf Papierbögen, abstrakte Wimmelbilder assoziierend. In deren Kleinteiligkeit tauchen auf den zweiten Blick gegenständliche Details auf, die im Gesamtbild der montierten Blätter einen übergreifenden Zusammenhang offenbaren. Die Änderung des Blickwinkels lässt in den Bildern mannigfaltige Details erkennbar werden, die neue Interpretationen zulassen.

Torsten Bohm

Torsten Bohm lebt im ländlichen Umfeld des kulturellen Kleinods Luckenwalde und hat vergleichsweise spät seine Berufung zum Künstler gefunden. Seine gezeichneten und collageartig modellierten, unverkennbaren Figuren bewegen sich in einer Welt, die des Künstlers Passion für die Oper erkennen lässt und sind mit ihren Bezügen in aktuelle kulturgeschichtliche Zusammenhänge und Diskurse eingebunden.

Robert Dörfler

Robert Dörfler stammt aus den Randlagen des Erzgebirges, lebt seit etlichen Jahren in Chemnitz und widmet sich einer Grafikrichtung, deren Werke aus der virtuosen Anordnung von Buchstaben entstehen. Das kann mit Hilfe des Rechners erfolgen – ich erinnere mich an die seinerzeit weit verbreitete „Dame aus dem Computer“ aus den 60ern – oder mit der Schreibmaschine. Robert Dörfler kann beides und zeigt in dieser Ausstellung pittoreske Landschaften, die an Stiche aus dem 19. Jahrhundert erinnern, an Reiseskizzen der Romantiker, in feinster Ausarbeitung auf der Schreibmaschine entstanden. Robert Dörfler ist in der Doom Metal Band „Petrified“ aktiv, die in einer ehrwürdigen Zschopauer Musiktradition steht.

Lydia Thomas

Lydia Thomas gehört zum gleichen durch München geprägten Kreis wie Hanne Kroll und hatte sich als Absolventin bewusst für Chemnitz mit seinem rauen Klima entschieden. Ich hatte mehrmals Gelegenheit, mit ihr zusammenzuarbeiten und schätze ihre kreativen Lösungen. Auf ihren Ölmalereien tummeln sich, neben Gruppen ratloser Männer, zahlreiche zivilisatorische Versatzstücke aus dem profanen und sakralen Bereich, die die Betrachter anzusprechen scheinen, dabei in ihrer isolierten Zurückgezogenheit ausharrend, vergleichbar einem blinden Hund, der einen anstupst und dessen Präsenz im Suchen bleibt. Diese gegenständlichen Motive hat Lydia Thomas auf Bahnen von Transparentpapier übertragen.
Die Welt ist jetzt nicht nur vor dem Bild präsent, sondern scheint auch durch dieses hindurch, was die Einsamkeit der Warnwesten und barocken Kanzeln eher verstärkt als auflöst.

Florian Merkel